Vom Finden und Besuchen des Kollegs und dem Abitur in der Tasche
Fünf Fragen an eine Abiturientin aus dem Jahr 2020
1. Warum hast du dich für das Abitur auf den zweiten Bildungsweg entschieden?
Auf dem 1. Bildungsweg „scheiterte“ ich bereits nach der 11. Klasse. Ich war damals gerade vier Jahre in Deutschland und neben der fehlenden Sprachförderung war ich von der Gesamtsituation – andere Sprache, fremde Kultur, familiäre Situation und große Sehnsucht nach der Heimat – einfach überfordert.
2. Hattest du Bedenken das Abitur zu machen aufgrund deiner persönlichen Situation?
Fast 20 Jahre später, als alleinerziehende Mutter von drei Kindern die damals 14, 9 und 3 Jahre alt waren, verlor ich meine Arbeitsstelle als ich meinen Vertrag von Vollzeit auf Halbzeit runterstufen wollte, da ich erkannt habe, dass bei einer 50-Stunden-Woche die Familie zu kurz kam und dies uns alle sehr belastete. Nun konnte ich eine andere Halbzeitstelle suchen. Bei dem Modell bleiben allerdings kaum Chancen für berufliche Entfaltung oder Aufstiegsmöglichkeiten, der Lohn ist auch nur der Halbe. Hier habe ich mich gefragt – möchte ich das? Ein klares nein!
Die Internetrecherche nach Abendgymnasien und Kollegs für Erwachsene führte mich zufällig auf die Seite vom Kolleg Schöneberg. Als erstes fiel mir das Bild einer Mutter mit zwei Kindern auf. Das war es, der Entschluss, wieder die Schulbank zu drücken und uns eine bessere und erfüllte Zukunft aufzubauen, stand fest.
Da es bereits Januar war, bangte ich, ob ich noch für den Vorkurs in diesem Jahr aufgenommen werden kann. Innerhalb von ein paar Tagen war seitens des Kollegs alles klar – es kann losgehen. Aber so einfach war es doch nicht… Da mir zum Arbeitslosengeld aufstockend das Arbeitslosengeld II (Harz IV) gewährt wurde, war die nächste Hürde, den Arbeitsvermittler von meiner Idee zu überzeugen. Er schüttete mich mit Weiterbildungsmaßnahmen und Jobangeboten zu, bevor ich meine Idee vorstellen konnte. Seine Antworten auf meinen ausgeklügelten Plan waren sehr, sehr demotivierend – durch die Blume wurde mir eingeredet, ich sei zu alt und dass ein Studium auf dem heutigen Arbeitsmarkt überhaupt nicht nötig wäre , schließlich verdienen sehr viele Menschen ohne Studium auch sehr viel Geld. Hier konnte ich kontern, war mir sicher, dass das der richtige Weg ist. Die Aussage, die mir den Boden unter den Füßen wegriss war:
„Sie bekommen dann kein Geld mehr von uns.“
Mit drei Kindern kann ich nicht mittellos bleiben. Also wieder Recherche: Wie viel Bafög gibt es? An wen könnte ich mich noch wenden – Sozialhilfe? Förderverein?, Wie hoch wäre der zu zahlende Krankenkassenbeitrag bei Selbstzahlung, Nebenjobs in Spät- bzw. Nachtschicht… Sämtliche schlaflosen Nächte später sendete ich die Kolleganmeldung und den BAföG Antrag ab. Zum Glück – das ALG II wird nämlich aufstockend auf den BAföG-Betrag berechnet und ausgezahlt. Die Krankenkassenbeiträge werden ebenfalls übernommen.
Später habe ich von vielen KollegiatInnen erfahren, dass sie sehr ähnliche Erfahrung mit dem Amt gemacht haben. Also an alle, die am verzweifeln sind – lasst euch nicht von eurem (Bildungs-)Weg abbringen.
3. Wie war es für dich am Kolleg Schöneberg zu studieren?
Hat man dir geholfen (Lehrer & Familie)?
Nach dieser Hürde meisterte ich mit Bravour den Vorkurs, auch wenn meine Schulzeit 20 Jahre zurücklag. In den Ferien hatte ich endlich Zeit für meine Kinder, das war unbezahlbar. Hoch motiviert startete ich in die E- Phase. Es war plötzlich viel mehr zu lernen, viele Fächer und Klausuren… uff. Aber mit guter Organisation konnte ich etwas Zeit zum Lernen „freischaufeln“. Ich wusste zwar, dass die Zensuren mein Können in keiner Weise widerspiegeln, aber der Ehrgeiz musste der Familie weichen. Allzu glatt sollte es dann doch nicht laufen – familiäre Probleme bahnten sich an und belasteten mich immer mehr. Meine Leistung in der Schule nahm ab. Zum Glück konnte ich mich im Kolleg vertrauensvoll an Lehrer wenden, die mir zugehört haben und mir einen Schubs in die richtige Richtung gaben – z. B. die schulinternen Sozialpädagogin leistete schnell Hilfe. Obwohl die Probleme nicht weniger wurden, konnte ich besser damit umgehen.
Im letzten Jahr – im 3. Semester – stand ich dann doch vor der Kollegtür und habe verzweifelt darüber nachgedacht, wie ich es schaffen soll und woher ich die Kraft nehmen soll. Habe mich gefragt, wie es mit Pausieren oder Wiederholen aussehe, da ich mit meiner Schulleistung nicht zufrieden war. War kurz vor dem Aufgeben. Neben Unterstützung der MitkollegiatInnen, die sämtliche Unterrichtsmaterialien weiterleiteten, Unklarheiten erklärten und einfach nur zum Quatschen da waren, wandte ich mich mit meinen Fragen an die Jahrgangskoordinatorin. Diese warf einen Blick auf meine Zensuren und Fehlzeiten und… verstand gar nicht, warum ich wiederholen sollte. Es war alles ok. Ich traf wieder mal auf tiefstes Verständnis und fand die Motivation für das Weitermachen wieder. Zum Glück – denn nur so konnte ich mein Abitur mit einem guten Durchschnitt schaffen.
Was ich erfahren habe, wäre vor allem auf dem 1. Bildungsweg wünschenswert. Das sich in meinem Kopf festgesetzte Bild eines Lehrers wurde durch die Zeit auf dem Kolleg komplett verändert. Die Lehrer, immer noch Respektspersonen, waren nah an uns, unseren Sorgen und Alltagshürden dran. Die flachen Hierarchien kamen vor allem auf Exkursionen und Kursfahrten zum Vorschein – man konnte mit den Menschen, die sonst an der Tafel standen, Pferde stehlen. Dies beeinflusste mich so sehr, dass ich nun selbst ein Lehramtsstudium anstrebe.
4. Wie war es für dich das Abitur während der Corona-Krise zu schreiben?
Nun fiel auf unseren Jahrgang das „Corona-Abitur“ ab. Das Motto – „Mit Abstand die Besten“, klang viel besser, als die Zeit es in der Realität war. Keine Lerngruppen, Büchereien geschlossen, Kinder zu Hause, kein öffentliches Leben… Abi-Vorbereitung in Eigenregie – mit Internetportalen und YouTube-Videos. Da half auch nicht die Zuversicht der Lehrer oder die aufmunternden, warmen Worte der Schulleiterin. Es fehlte an der Abiturvorbereitung im Frontalunterricht. Als dann die Debatte um die Prüfungen und ob sie schließlich überhaupt stattfinden können losgetreten wurde, konnte auch ich nicht die Motivation zum Lernen finden. Ich ließ mich einfach hängen und konnte selbst als berufserfahrene Kauffrau meinen Alltag und die Prüfungsvorbereitung schlecht organisieren. Die viele Freizeit widmete ich den Kindern. Meine Tochter hat so noch vor der ersten Klasse lesen gelernt.
Als die Prüfungstermine endlich feststanden, mussten wir alle raus aus dieser Blase und uns aufraffen. Endlich wussten wir, wann welche Prüfung stattfindet. Diese „Deadline“ war der beste Antrieb. Von nun an war intensives, tägliches Lernen Programm. Sehr unpädagogisch drückte ich in der Zeit meiner, mittlerweile sechsjährigen, Tochter öfter das Tablet in die Hand und schaffte mir Apps mit Entertainment-Paketen für den Fernseher an. Familie unterstützte mich in der Zeit auch nach Möglichkeit.
Nun war die Zeit der Prüfungen gekommen. Die meisten von uns fühlten sich schlecht vorbereitet. Doch als wir im Klassenraum saßen und die Aufgaben bekamen, kam das Gefühl einer „normalen“ Klausur auf. Aus den tiefsten Ecken des Verstandes tauchte das über die Jahre und in der kurzen Vorbereitungszeit gesammelte Wissen wieder auf.
Es lief besser, als ich es je zu träumen gewagt hätte. Auch wenn nicht in allen Prüfungsfächern das Ergebnis gut war, holte ich einen guten Abiturdurchschnitt raus. Dieser spiegelt nicht nur meinen Wissensstand wider, es ist ein Zeugnis meines Durchhaltevermögens und geistigen Wachstums, auf welches ich stolz bin.
5. Was würdest du Müttern raten, die das Abitur machen wollen?
Als Mutter ist es natürlich sehr schwer nochmal die Schulbank zu drücken. Die doppelte Belastung zerrt sehr an einem. Hat man mit den Kindern ihre Hausaufgaben erledigt, bleibt kaum Zeit und Lust für die eigenen. Dazu die Elternabende, die außerschulischen Aktivitäten, die Freizeitgestaltung – da muss alles wie in einem Uhrwerk laufen. Wie ist das alles zu schaffen, habe ich mich oft gefragt. Doch ich musste immer daran denken, welche Zukunft ich mir für meine Kinder wünschen würde – eine, in der sie in einem Job alles geben für einen Lohn, der sie oft zwingt beim Jobcenter anzuklopfen und in dem sie über die Jahre keine Entwicklung erfahren und schließlich versauern? Oder eine, wo sie die Möglichkeit haben, hochqualifiziert dem Arbeitsmarkt gegenüberzutreten und sich eine Arbeit aussuchen können, die wirklich ihr Traum war? Natürlich kam nur die zweite Option infrage. Also ging ich mit gutem Beispiel voran…
Ohne die Unterstützung der Lehrer und der Sozialberaterin des Kollegs hätte ich mich auf dem Weg zur besseren Zukunft verlaufen. Danke.